Die heute 51jährige K zog 1974 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Zuletzt war sie von Juni 2010 bis März 2014 versicherungspflichtig in der Altenpflege tätig. Anschließend bezog sie bis Ende 2016 Arbeitslosen- und Krankengeld. Seit November 2019 übt sie eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung bis zu sechs Stunden pro Woche in der häuslichen Altenpflege aus. Um die zu pflegende Person aufzusuchen, wird K u.a. von ihrem berufstätigen Ehemann mit dem Auto gefahren. K ist nicht im Besitz eines Führerscheins. Jedenfalls seit Oktober 2016 leidet sie unter einer aktiven Morbus-Crohn-Erkrankung mit mindestens 10 Durchfällen pro Tag sowie plötzlicher und unvorhersehbarer Dranginkontinenz.
Im Juni 2017 beantragte K die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie machte geltend, bei Verlassen des Hauses müsse sie sich aufgrund ihrer blutigen Durchfälle immer vergewissern, wo sie unterwegs eine Toilette aufsuchen könne. So habe sie z.B. die Erlaubnis, im Supermarkt auf die Personaltoilette gehen zu können.
Der Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag ab, weil K kürzere Fahrstrecken in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Toiletten möglich seien.
Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Auf die Berufung der K hat der 7. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg den Rentenversicherungsträger zur Gewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente verurteilt. Denn es sei K nicht zumutbar, eine Arbeitsstätte aufzusuchen. Angesichts der Notwendigkeit, jederzeit eine Toilette zu benutzen, könne K nicht auf öffentliche Nahverkehrsmittel verwiesen werden. Diese hätten entweder gar keine Toiletten (wie etwa Busse und U-Bahnen) oder (wie etwa Regionalverkehrszüge) Toiletten in nicht in quantitativ ausreichender und funktionell zuverlässiger Weise. Anders als womöglich bei Harninkontinenz könne K aufgrund ihrer Stuhlinkontinenz nicht auf die Nutzung von Einlagen verwiesen werden. Dies gelte umso mehr, als sie sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befinde. Die Erwerbsminderungsrente sei schließlich zu befristen gewesen, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass K durch die Optimierung der laufenden Therapie zukünftig wieder die erforderlichen Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen könne.
Das Urteil ist rechtskräftig.
Hinweis zur Rechtslage: Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der
Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf
Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit
haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind
Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll
erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch Versicherte (…), die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können (…). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage
nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Zur Erwerbsfähigkeit gehört nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können (sog. Wegefähigkeit). Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, wird auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine volle Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Metern jeweils binnen 20 Minuten zu Fuß bewältigen und ferner zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
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